Die Koalitionsverhandlungen sollten eigentlich schon Sonntagabend zu Ende gewesen sein, gedauert hat es dann aber doch bis Mittwochvormittag. Und ich muss persönlich zugeben: selten hat mich Politik mehr ermüdet, wie in diesen Tagen. Die völlig überdimensionierte mediale Inszenierung dieser Angelegenheit hat daran sicherlich erheblichen Anteil. Wie sehr das politische Tagesgeschäft die Agenda vieler Medienhäuser beherrscht, war eindrucksvoll zu beobachten – die inhaltliche Abhängigkeit davon allerdings stimmt mich zunehmend nachdenklich.
Vielmehr aber noch beschäftigen mich die chronischen Jammerattacken in diesem Land – in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ich bin kein Freund der großen Koalition, ich habe erhofft, dass etwas mehr Dynamik aus dem Koalitionsvertrag hervorgeht – vor allem für strategische Fragen wie Rente, Digitalisierung, aber auch Gesundheit und Wirtschaft. Aber ganze Europa wartet auf eine handlungsfähige Regierung in Deutschland. Umso wichtiger also, dass es in dieser Angelegenheit nun hoffentlich bald Klarheit gibt.
Gerade deshalb ist – meiner Meinungen nach – die große Koalition zum jetzigen Zeitpunkt die beste aller realisierbaren Lösungen.
Diese Koalition ist sicherlich für keine der beiden Parteien eine Wunschkoalition, aber es wurde ein tragfähiger Kompromiss ausgehandelt, der diesem Land auch in den nächsten vier Jahren Stabilität verleihen wird. Die Belastungen der Verhandlungsführer in den letzten Wochen waren ohne Frage enorm, zu emotional sind viele Menschen an politischen Entscheidungen beteiligt. Vor diesem Hintergrund haben sich die politischen Protagonisten in Union und SPD eine gehörige Menge an Respekt verdient.
Gerade letzteres scheint aber, meinem Empfinden nach, vielfach in den Hintergrund zu rücken. Deutlich leichter ist es nach Reaktionen zu suchen, die diesen Koalitionsvertrag zerreden.
Das gilt zum einen für nicht wenige journalistische Beiträge, die inhaltlich oftmals nur an der Oberfläche der Tatsachen kratzen. Hinzu kommt, dass viel Web-Content nicht unwesentlich auf Klickzahloptimierung ausgelegt ist – und bekanntermaßen lässt sich die emotionale Erregung der Leserschaft vor allem durch Kritik und plastische Schlagzeilen erzeugen.
Dass andere Parteien, die nicht an der künftigen Regierung beteiligt sein werden, die Ergebnisse kritisieren ist grundsätzlich nicht verwunderlich. Und dennoch ist es mühsam, derartigen Statements genügend Aufmerksamkeit zu schenken. Vor allem, weil bereits im Vorfeld klar ist, dass es nur eine verbale Stoßrichtung geben wird: dagegen. Derartig wenig differenzierte Äußerungen kann man eigentlich nicht wirklich ernst nehmen.
Wer das Treiben der Netzgemeinde verfolgt, wird dabei ebenso schnell fündig. 140 Zeichen reichen in jedem Fall um sich über einen Politiker lustig zu machen oder von der Couch aus seine Kritik aus zu formulieren. Dass dabei oftmals der Tiefgang auf der Strecke bleibt: geschenkt.
Und gleiches gilt natürlich auch für viele Verbände und andere Organisationen, die sich unmittelbar danach mit Kritik keineswegs zurückhielten – wohl wissend, dass der Koalitionsvertrag jetzt bereits ausgehandelt ist. Das ist in etwa so konstruktiv, wie wenn sich ein Spieler nach einer gelben Karte beim Schiedsrichter beschwert.
Ich glaube, die viele Kritik am politischen Geschehen ist oftmals nur der bequemere Weg. Denn seinen verbalen Unmut zu äußern ist ohne Zweifel um ein Vielfaches einfacher, als das Heft des Handelns selbst in die Hand zu nehmen.
“Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.” – wenn dieser Satz stimmt, dann haben wir noch ein ganz anderes Problem. Ein Problem namens ‘Mindset’.
Als Gesellschaft haben wir nach wie vor Schwierigkeiten mit dem rasenden Innovations- und Veränderungstempo dieser Welt. Und wir sind noch nicht mutig genug, diesen Wandel selbst aktiv zu gestalten. Doch genau das wäre so zwingend notwendig. Ein gesellschaftliches Mindset muss sich von innen heraus verändern, nicht von außen. Barack Obama ist dafür das beste Anschauungsbeispiel: auch als erster schwarzer Präsident konnte er den grassierenden Rassismus in den Vereinigten Staaten nur bedingt verringern, wenn überhaupt.
Was wir also brauchen, ist mehr persönlichen Gestaltungsanspruch. Mehr mitreden, mehr einmischen. Am besten gemeinsam. Wie mächtig so etwas werden kann, hat nicht zuletzt die weltweite #metoo Bewegung gezeigt.
Die dringlichste Aufgabe in den nächsten Jahren wird deshalb sein, an einer neuen Systemarchitektur für unsere Gesellschaft zu arbeiten.
Eine, die dazu in der Lage ist, agil und kollaborativ auf Veränderungen zu reagieren. Dazu kann und soll jeder einen Beitrag leisten. Ansatzpunkte gibt es genügend.
Es ist höchste Zeit, dass…
- …verkrustete Managementstrukturen vieler Unternehmen endlich aufbrechen.
- …sich deutlich mehr Menschen mit den Herausforderungen der Digitalisierung auseinandersetzten.
- …Bildung ein lebenslanger imperativ für beruflichen und persönlichen Erfolg wird.
- …sich noch mehr Menschen den Auswirkungen ihres Lebensstils auf Umwelt und Gesundheit bewusstwerden.
- …wir ein Vereinigtes Europa als absolute Notwendigkeit für eine starke Rolle Deutschlands in der Welt begreifen.
Sich darüber zu unterhalten, wie wir das schaffen können, das macht Sinn – viel mehr noch, als sich über das politische Tagesgeschehen zu echauffieren.
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