Für die meisten Beobachter gilt es als ausgemacht, dass der kommende SPD-Sonderparteitag die Aufnahme von Koalitionsgesprächen für eine erneute GroKo durchwinken wird. Und trotzdem: sicher ist nichts. Die Vorbehalte, insbesondere an der Basis, scheinen groß. Viele befürchten, dass diese GroKo die gleichen Folgen haben wird wie die beiden vorherigen – und die SPD geht mit weniger Prozentpunkten hinaus als hinein. Nachdem die SPD schon im letzten Jahr das schlechteste Ergebnis bei einer Bundestagswahl seit der Nachkriegszeit erzielt hat, wäre das zweifelsohne ein Desaster.
Eine Partei unter 20% ist keine Volkspartei mehr. Wer Politik linear denkt, für den scheint dieses Szenario im Fall einer GroKo beschlossene Sache.
Dabei werden allerdings unterschiedlichste Gründe für das Versagen der SPD bei den letzten Bundestagswahlen in einen Topf geworfen.
Das fängt bei den jeweiligen Spitzenkandidaten an. Frank-Walter Steinmeier versuchte es 2009 mit dem gleichen öffentlichen Elan wie Angela Merkel, verlor aber sang und klanglos gegen die Amtsinhaberin. Peer Steinbrück versuchte es 2013 mit dem Kopf durch die Wand und scheiterte ebenso kläglich an einer Bundeskanzlerin, die den Eindruck politischer Gelassenheit in ihrer Außendarstellung perfektioniert hatte. Und Martin Schulz scheint eher an sich selbst verzweifelt zu sein, als an einer Union die bei der letzten Bundestagswahl knapp 9% verloren hat.
Dass erfolgreicher Wahlkampf ohne richtiges Personal ungemein schwerer ist, hat nicht zuletzt Hilary Clinton in den USA bewiesen.
Das geht aber auch weiter mit der steilen These, die SPD hätte immer zu wenig Inhalte umgesetzt. Allein in der letzten GroKo kam dabei folgendes raus: Mindestlohn, Rente mit 63, Ehe für alle, Mietpreisbremse, Frauenquote für Aufsichtsräte, etc. Man muss diese Vorhaben nicht gut finden, aber sie tragen ohne Zweifel die klare Handschrift der SPD. Die gestalterische Ausbeute der CDU/CSU ist dagegen wohl weniger eindeutig, war doch vieles neben der schwarzen Null nur Erhalt des Status Quo. Insofern lassen sich daraus nur zwei Schlüsse ziehen: entweder die SPD vermarktet ihr Tun und Schaffen schlechter als andere Parteien oder sie setzt die falschen Prioritäten für die Herausforderungen unserer Zeit.
Was Zweiteres betrifft, so müssten eigentlich die Jusos (=Jungsozialisten) deutlich zukunftsweisender aufgestellt sein als die Parteiälteren. Besonders auffällig dabei ist aber in diesen Tagen die unaufhörliche Blockadehaltung der Jusos zur GroKo, allen voran die medienwirksame Inszenierung ihres Vorsitzenden Kevin Kühnert. Dieser wird an diesen Tagen nicht müde zu betonen, was er schon Mitte Dezember formuliert hat: “Die Erneuerung der SPD wird außerhalb einer großen Koalition sein. Oder sie wird nicht sein.”
Man fragt sich nur, wie diese Erneuerung aussehen soll. Folgt man den Aussagen des Juso-Vorsitzenden zur Kritik an der großen Koalition, dann ist es folgendes: Bürgerversicherung, höhere Spitzensteuersätze und das Verhindern einer Obergrenze in der Flüchtlingspolitik.
Ganz unkommentiert sollte man das allerdings nicht stehen lassen. Der grundlegende Systemwechsel in der Gesundheitspolitik wäre ohne ein schlüssiges Konzept, das im Vorfeld konsequent durchdacht ist, nicht zwangsläufig der erhoffe Befreiungsschlag für die Versicherten. Die Folgen lassen sich nur schwer abschätzen. Politik braucht eben Konzepte und nicht nur neue Begrifflichkeiten. Der höhere Spitzensteuersatz soll bereits ab einem Einkommen von 60.000 EUR greifen. Wer sich die Steuerprognose für die kommenden Jahre ansieht, dem sollte eigentlich klar sein, dass der Staat nicht auf zusätzliches Geld angewiesen ist. Vielmehr sollte uns aber die Struktur unserer Gesellschaft zu denken geben, dass 90% der Arbeitnehmer in diesem Land weniger als ebenjene 60.000 EUR verdienen. Und was die heiß diskutierte Obergrenze angeht, so ist jedenfalls meine persönliche Meinung dazu, dass die Wähler sich bei der letzten Bundestagswahl relativ klar für ein strikteres Vorgehen in der Flüchtlingspolitik ausgesprochen haben. (CDU/CSU+FDP+AfD = 56,2% im Gegensatz zu SPD+Grüne+Linke = 38,6%). Diese Tatsache vollends zu ignorieren, scheint in diesem Fall deshalb kein adäquates politisches Stilmittel zu sein. Noch dazu, wo im Abschlusspapier der Sondierungsgespräche eindeutig formuliert ist, dass die Koalitionsparteien nicht Flüchtlinge bekämpfen wollen, sondern Fluchtursachen.
Was lässt sich also daraus schlussfolgern? Viele sprechen immer vom letzten Rest Glaubwürdigkeit, der aufgebraucht wird, wenn die SPD nun in die GroKo eintritt. In gewissen Maßen mag das durchaus richtig sein. Martin Schulz hat mit seiner Absage zur GroKo am Wahlabend eine Tür zugemacht, die noch gar nicht offen war.
Glaubwürdigkeit spielt in jedem Fall eine gewichtige Rolle in der Politik. Genauso gewichtig sind allerdings die Ideen von einer zukunftsfähigen Gesellschaft.
Und, dass diese Ideen beim Bürger ankommen. Vielleicht mangelt es der SPD auch daran.
Noch immer begründet die SPD ihre Daseinsberechtigung als Partei der “kleinen Menschen”. Die SPD, eine “Arbeiterpartei”. Im letzten Jahrhundert hat die SPD große Errungenschaften durchgesetzt und damit erheblichen Anteil am Wohlergehen der deutschen Bevölkerung. Das 21. Jahrhundert aber ist anders. Globalisierung und Digitalisierung erhöhen die Schlagzahl des menschlichen Fortschritts auf ein Tempo, das viele Menschen überfordert. Gestern Industrie 4.0, heute Artificial Intelligence und morgen Kryptowährungen. Arbeitsplätze werden genauso schnell abgebaut, wie sich neue Geschäftsfelder entwickeln.
Die Handlungsgeschwindigkeit der Politik erscheint dagegen als Schneckentempo, doch das muss nicht unbedingt schlecht sein. Gute Politik braucht Zeit und vor allem den konstruktiven Diskurs. Und der Diskurs an sich braucht immer wieder frischen Wind – nicht nur von der Politik, aber auch. Diese so dringend notwendige Vitalität fehlt der SPD, mindestens in der Außendarstellung. Wo sind die großen Linien dieser Partei? Wo sind die neuen Ideen abseits klassisch-linker Forderungen?
Diese Dinge zu erarbeiten erfordert präzises Analysieren und scharfes Nachdenken.
Mir persönlich jedenfalls ist nicht klar, warum ein solcher – meinem Empfinden nach unausweichlicher und vor allem inhaltlicher – Erneuerungsprozess von einer Regierungsbeteiligung abhängig sein sollte. Gerade vor dem Hintergrund, dass alles auf eine letzte Amtszeit von Angela Merkel hindeutet und der CDU/CSU bei der nächsten Bundestagswahl ihr wohl größter Trumpf fehlen wird.
Zwei Sachen wird die SPD deshalb in jedem Fall brauchen: den Mut, radikal neu zu denken und das Selbstvertrauen, mit ebenjenen Ideen die Menschen in Deutschland wieder von der Sozialdemokratie zu überzeugen.
Wenn die SPD wieder in die Erfolgsspur zurückfinden will braucht sie darüber hinaus mehr Charisma an der Parteispitze. Neue Köpfe sind also gefragt. Politikertypen à la Martin Schulz oder Ralf Stegner sind ein politisches Auslaufmodell. Sie wirken verbraucht oder aus der Zeit gefallen. Und sollte Andrea Nahles sich wirklich zu höherem berufen fühlen, so muss sie sich mindestens einmal neu erfinden. Was die Substanz an deutlichen jüngeren Politikern mit ausreichend Talent betrifft, so ist diese in der SPD sicherlich höher als in der CDU. Eine klare Erneuerung aber erfordert auch einen klaren Schnitt.
Was diese verdiente Partei allerdings momentan abliefert ist maximal destruktiv. Man kann es ein Herumgewurschtel nennen oder auch Selbstzerfleischung – Fakt ist, es fällt immer schwerer diese SPD wirklich ernst zu nehmen.
Egal welches Ergebnis der Parteitag hervorbringen wird, kein Mensch weiß wirklich, ob diese Partei nun Regierungsverantwortung übernehmen will oder nicht. Kein Mensch weiß, für welchen Inhalte die SPD eigentlich noch steht. Und auch kein Mensch weiß, wer diese Partei an der Spitze authentisch verkörpern soll.
Schlussendlich ist es deshalb auch ein strukturelles Problem. Warum braucht es eigentlich noch Parteivorsitzende und ein Parteipräsidium, wenn sowohl die Aufnahme von Sondierungsgesprächen als auch die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen und auch der fertige Koalitionsvertrag erst die Zustimmung eines Parteitages bedürfen? Traut man den ‘Führungskräften’ der Partei denn überhaupt keinen Meter mehr allein zu gehen? Es gibt in der SPD auch nicht wenige, die sich dazu noch der Illusion hingeben und einen Verbleib von Martin Schulz an der Parteispitze unabhängig vom Abstimmungsergebnis über das Sondierungspapier einstufen – meiner Meinung ist das hochgradig naiv. Und es ist genau der gleiche parteipolitische Schlingerkurs, der die SPD erst dahin gebracht hat, wo sie heute steht.
Darüber hinaus hat diese Partei aber grundsätzlich noch drei weitere, ganz wesentliche Problemstellungen zu bewältigen:
1) Es fehlen die richtigen Menschen an der Parteispitze.
2) Es mangelt an einer parteipolitischen Leitlinie, die eine klare und konsequenten Außendarstellung zu Folge hat.
3) Es scheint immer noch keine inspirierende Neuinterpretation der Sozialdemokratie für das 21. Jahrhundert gefunden.
Wenn die SPD diese Herausforderungen nicht entschieden genug angeht, erscheint es mir durchaus möglich, dass die Leidensgeschichte dieser Partei ihren Tiefpunkt noch nicht erreicht hat. Es könnte also sein, dass der Sturzflug in Richtung politische Bedeutungslosigkeit noch eine ganze Weile andauert.
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