Die Minderheitsregierung – ist weniger vielleicht doch mehr?

Es wäre an der Zeit, dass wir uns ernsthaft mit der Idee einer Minderheitsregierung auseinandersetzen. Drei gute Gründe und welche Auswirkungen dabei auf die politische Kultur entstehen könnten.

Bis vor wenigen Wochen war ein derartiges Modell für viele Menschen in diesem Land wohl nicht einmal gedanklich vorstellbar, schließlich gab es ein solches Regierungskonstrukt auch noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Zu stabil waren die Verhältnisse bisher und als Übergangslösung gab es hin und wieder eine Große Koalition (GroKo) der beiden Volksparteien. Nach den gescheiterten Sondierungsgesprächen zu einer möglichen Jamaika-Koalition steuert Angela Merkel in ihrer vierten Amtszeit nun aber unter Umständen auf eine dritte GroKo zu – aus einer Übergangslösung scheint eine Dauerlösung zu werden. Unweigerlich kommt deshalb die Frage auf, ob dieses Vorhaben wirklich so alternativlos ist wie es oft dargestellt wird. Ich glaube nicht, vor allem aufgrund von drei Gründen.

1) Wir brauchen eine breitere Debattenkultur.

Im Interesse unsere Demokratie wäre diese Entwicklung in jedem Fall erstrebenswert, der Aufstieg der AfD ist dabei in seiner Wucht möglicherweise ein erster Vorbote. Besonders in so ereignisreichen Zeiten, wie wir sie momentan erleben, brauchen wir als Gesellschaft einen breiten Diskurs über unsere Zukunft – aber es muss ein Diskurs sein, der auf Ausgleich, Stabilität und Verantwortung bedacht ist. Politische Ränder erzeugen allerdings genau das Gegenteil, sie präsentieren einfache Lösungen auf komplexe Probleme und nutzen ihr Oppositionsdasein als Steigbügelhalter für medienwirksame Aufmerksamkeit. Konstruktiv ist das allerdings nur selten, vielmehr lenkt es mitunter von eigentlich viel drängenderen Handlungsfeldern ab. Eine erneute Große Koalition würde aber vermutlich abermals einen gesellschaftspolitischen Meltau produzieren, den viele Menschen angesichts der bevorstehenden Herausforderungen als Zumutung empfinden.

Denn Politik wird nie perfekt sein, sondern immer nur das Beste der bestehenden Möglichkeiten – aber man sollte die zu verhandelnden Möglichkeiten auch gut erkennen können, damit das System sich nicht selbst seiner eigenen Stärken beraubt.

Gerade deshalb aber ist und wäre eine starke Gegenstimme der politischen Mitte für die gesellschaftliche Meinungsbildung und den darauf aufbauenden Entscheidungsfindungsprozess so zwingend notwendig.

2) Wir brauchen neue Interaktionsmechanismen.

“Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.” – diesen klugen Satz hat Joseph de Maistre schon im Jahre 1811 gesagt und er hat bis heute nicht an Bedeutung verloren wie ich finde. Politik ist auch immer Ausdruck der gesellschaftlichen Verfassung. Und dabei erleben wir gerade massive Umwälzungen, etablierte Modelle unseres Zusammenlebens stehen auf dem Prüfstand. Hierarchien flachen ab, zentrale Organisationsmodelle werden durch kollaborative Netzwerkstrukturen ersetzt und die Individualität des Einzelnen wird nicht länger als Standardabweichung, sondern als positiver Unterschied wahrgenommen. Momentan ist zu beobachten wie manche Unternehmen mit dieser neuen Dynamik hadern und sich schwer tun adäquate Lösungen auf diese Herausforderung zu finden. Ein ähnlicher Prozess könnte auch der Politik bevorstehen, die Parallelen sind jedenfalls unverkennbar – und insofern ist es wohl unausweichlich dafür neue Wege zu finden.

Viele Menschen sehnen sich nach frischem Wind, und das nicht nur personell.

Die Jamaika-Koalition wäre von diesem Hintergrund ein spannendes Projekt gewesen. Inhaltlich mag man darüber unterschiedlicher Meinung sein, aber das Entstehen neuer Herangehensweisen zur Bewältigung politischer Probleme hätte auch viele positive Aspekte zur Folge gehabt.

3) Wir brauchen mehr Verantwortung für Parlament und Abgeordnete.

“Es gibt Momente, in denen man dem Parlament die Verachtung zurückgeben möchte, mit der es seine Bürger bisweilen behandelt. […] Ich habe lange Phasen erlebt, in denen kein einziger Abgeordneter bei dem war, was vorne gesprochen wurde. Da beugten sich Männer lachend über Displays, feisten mit dem Rücken zum Podium, ballten sich in Grüppchen. Nicht nachlässig war das, sondern offensiv vorgetragene durch Rufe ins Plenum unterstütze Missachtung. […] Kein Argument ist zu schlicht, keine Fälschung ist zu dreist, um es nicht in den Bundestag zu schaffen,” – so hat Roger Willemsen unter anderem seine Eindrücke formuliert, als er im Jahr 2013 von der Zuschauertribüne aus die Sitzungen des Deutschen Bundestages verfolgte. Und er beschreibt damit grundlegende Probleme, an denen es unserer Demokratie im Moment mangelt. Im Kern ist es die, wie ich meine, mangelnde Autonomie und auch Verantwortung des Einzelnen in der Politik.

Es ist ein ständiges Versteckspiel hinter höheren Instanzen, der Politiker ist in einer dauerhaften Abhängigkeit zu seiner Partei.

Das ist aus gesellschaftlicher Sicht nicht immer optimal, denn noch viel zu oft ist die einzig wichtige Währung auf dem Weg zu einer erfolgreichen Karriere in diesem System die Loyalität, am besten uneingeschränkt. Umgekehrt aber könnten sich richtig progressive Ideen und ein überdurchschnittliches Maß an Charisma durchaus zu empfindlichen Störfaktoren entwickeln. Die Folgen davon sind nicht weiter verwunderlich, im betrieblichen Umfeld würde man von Dienst nach Vorschrift sprechen. Man engagiert sich vor allem um die nächste Wahl zu gewinnen – aber nicht unbedingt um die Vision eines Landes zu entwickeln, das es für alle Menschen besser machen würde. (Das macht ja die Parteiführung.) Eigentlich müsste man 709 hochgradig verschiedene Perspektiven auf Deutschland bekommen, würde man alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages fragen, wie sie sich dieses Land in 5, 10 oder 20 Jahren vorstellen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich daran aber meine Zweifel.

Eine Minderheitsregierung, um den Bogen an dieser Stelle zu schließen, könnte genau an dieser Stelle aber einen enormen Schub für die politische Kultur bedeuten. 

Einen Schub, der die klare Trennung zwischen Regierung und Opposition im Parlament lockert und die Abgeordneten in die Pflicht nimmt sich nicht länger hinter parteiideologischen Leitlinien zu verstecken. Ich glaube, die Zeit für diesen Schritt ist reif.


> Picture is taken from stocksnap.io <