Deutsche Leitkultur – gibt’s das?

Wie könnte ein, von einer breiten Bevölkerungsmehrheit getragener, Wertekonsens aussehen, auf dessen Basis wir unser Zusammenleben in Deutschland organisieren? Und was ist eigentlich “deutsch”? Ein Antwortversuch.

Der deutsche Innenminister Thomas de Mazière hat im Frühling dieses Jahres anhand eines Gastbeitrages in der Bild(!)-Zeitung versucht eine deutsche Leitkultur zu skizzieren, welche die Deutschen im Innersten zusammenhält. Darin finden sich dann unter anderem folgende Aussagen:

  • Allgemeinbildung hat einen Wert für sich.
  • Wir geben uns zur Begrüßung die Hand.
  • Wir sind aufgeklärte Patrioten.
  • Wir sind Teil des Westens.
  • Es ist selbstverständlich, dass bei einem politischen Festakt oder bei einem Schuljubiläum Musik gespielt wird.

Es ist schwierig dafür die passenden Worte zu finden – so oberflächlich, so unpräzise und auch an manchen Stellen so komisch sind diese Ausführungen. Das bringt uns also keinen Schritt weiter – und trotzdem sollten wir dieses Thema an sich nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. In erster Linie deshalb, weil wir als Gesellschaft einen inneren Kompass brauchen. Eine Art gedankliche Stütze, an der wir uns orientieren können, wenn wir uns mit den Herausforderungen der Zukunft beschäftigen. Dafür müssen wir allerdings etwas präziser werden in unserer Definition, denn allein vom Händeschütteln werden wir nicht schlauer.

Darum soll dieser Artikel der Versuch sein, mögliche Rahmenbedingungen und Leitlinien zu entwerfen, die uns dabei helfen zeitgemäße Prinzipien für unser gesellschaftliches Tun und Handeln abzuleiten. Prinzipien, die unsere Art des Zusammenlebens kenn- und auszeichnen.

Demokratie und politische Partizipation: Seit der Gründung der Bundesrepublik ist die Staatsform in der Verfassung konstituiert. Das alleine ist allerdings noch kein Garant dafür, dass alles gut wird. Denn wenn die Macht vom Volk ausgeht, liegt auch die Verantwortung bei der Bevölkerung selbst. Insofern braucht es nicht nur genügend (mehr als jetzt!) Transparenz bei einer politischen Entscheidungsfindung, sondern auch die Fähigkeit und den Willen jedes Einzelnen sich zu informieren, sich eine Meinung zu bilden und diese in einem konstruktiven Diskurs zu verteidigen. Das ist nicht immer bequem, aber zwingend notwendig – denn nur so können wir verhindern, dass die politischen Zentrifugalkräfte unsere Gesellschaft weiter spalten.

Freiheit und Rechtsstaatlichkeit: Die Freiheit des Einzelnen ist zweifelsohne einer der wichtigsten Bestandteile der demokratischen Staatsform, insbesondere das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit [Art. 2, GG]. Im Umgang miteinander sollten wir das nie vergessen – denn als aufgeklärte Gesellschaft haben wir es nicht nötig, uns ständig hinter persönlichen Vorurteilen zu verschanzen und damit auch indirekt die Selbstbestimmtheit eines anderen in Frage zu stellen. Genauso gilt aber, dass auch die Freiheit gewisse Grenzen hat – nämlich dann, wenn die Rechte eines anderen unmittelbar verletzte werden [Art. 2, GG]. Weder eine Religion noch eine politische Einstellung an sich ist gefährlich – sondern vielmehr eine radikale Interpretation, welche die Würde des Menschen nicht als unantastbar begreift. Toleranz und Respekt sind nicht verhandelbar.

Präzision und Höchstleistung: Im Kern liegt darin wohl die wirtschaftliche Stärke von Deutschland begründet. Es gibt unzählige Firmen mit einzigartigen Kompetenzen, die auf der ganzen Welt gefragt sind – auch deshalb muss das Streben nach höchsten Qualitätsansprüchen immer unser Anspruch sein. Allerdings nicht nur im betrieblichen Umfeld, sondern beispielsweise auch in der Verwaltung, dem Gesundheitssystem oder im Sport. Und wenn es in den letzten Jahren einen Moment gegeben hat, der das alles auf den Punkt gebracht hat, dann könnte es der 7:1-Sieg gegen Brasilien im WM-Halbfinale 2014 gewesen sein. Diese schnörkellose Mischung aus Disziplin und Cleverness hat der deutschen Mannschaft, wie ich finde, gut zu Gesicht gestanden.

Fortschrittsglaube und Zuversicht: Wir müssen uns ständig neu erfinden, in vielerlei Hinsicht – das wusste schon Charles Darwin. Insbesondere der rasante technologische Fortschritt ist heutzutage ein wesentlicher Treiber fundamentaler Veränderungen. Dabei werden wir nicht nur unser volkswirtschaftliches Geschäftsmodell neu justieren, sondern vor allem auch gesellschaftliche Antworten auf diese Veränderungen finden müssen. Die amerikanische Gangart einer starken Technologiefokussierung – insofern liegt es ans uns, selbst adäquate Lösungswege zu entwickeln. Denn der Fortschritt wir kommen, ganz egal ob wir es wollen oder nicht – digitale Technologien kennen schließlich keine Ländergrenzen. Wir dürfen uns dabei nur nicht selbst im Weg stehen, indem wir auf diese Herausforderungen ausschließlich reagieren – vielmehr muss es uns gelingen proaktiv zu agieren und dabei auch unsere persönlichen Denkmuster konsequent nach vorne auszurichten.

Solidarität und Eigenverantwortung: Diese Worte schließen einander nicht aus. Jeder Mensch sollte seinen individuellen Lebensweg einschlagen können und zugleich aber mit den Auswirkungen dieser persönlichen Entscheidung umgehen können. Glück, wenn man so will, ist nicht übertragbar. Grundsätzlich, ist es deshalb auch nicht falsch unser Zusammenleben als Leistungsgesellschaft zu bezeichnen – denn das Streben nach Erfolg und Fortschritt ist eine nicht unwesentliche Triebfeder des menschlichen Daseins. Den Begriff Leistung aber sollten wir nicht ausschließlich monetär, sondern auch unter Berücksichtigung eines gesellschaftlichen Nutzens bewerten. Die Idee, dass alles besser wird, wenn jeder nur an sich denkt, halte ich für höchst fragwürdig. Umso wichtiger wird es deshalb sein, dass Wohlstand auch unweigerlich mit einer sozialen Verpflichtung einher geht – gegenüber dem Staat, aber auch gegenüber den Mitmenschen. Denn nur dann können wir in diesem Land wirkungsvolle Rahmenbedingungen schaffen, die es jedem Menschen zu jedem Zeitpunkt (!) ermöglichen, das Beste aus seinem Leben zu machen – was aber daraus wird, muss jeder selbst entscheiden.

Ausgleich und Gelassenheit: Oder anders ausgedrückt: die Freude am Leben darf nicht verloren gehen. Jeder Mensch braucht Hobbies, jeder Mensch braucht Muse und jeder Mensch braucht Momente des Vergnügens – aber all das braucht Zeit und die richtige Balance. Denn ein Übermaß an Arbeit macht weder glücklich, noch ist es langfristig wirklich produktiv. Als Gesellschaft sollten wir uns deshalb von dem unausweichlichen Information-Overload, der jeden Tag über uns hereinbricht, nicht aus der Ruhe bringen lassen. Hysterie oder übertriebenes Effizienzdenken bringen uns dabei keinen Schritt weiter und führen nur in eine unaufhörliche Überlastungsspirale. Immer mehr beschleicht mich das Gefühl, dass nicht Geld die wertvollste Ressource eines Menschen ist, sondern Zeit. Aus diesem Grund sollten wir damit achtsam umgehen und uns gesellschaftlich genügend Freiraum geben für das was uns einzigartig macht: die Menschlichkeit.

Verantwortungsbewusstsein: Auch wenn dieser Begriff zumeist noch mit der schweren Last der deutschen Geschichte behaftet ist, so macht es wenig Sinn ihn dennoch ausschließlich einseitig zu verstehen. Eine ökologische Interpretation beispielsweise ist schon jetzt in der Mitte der Gesellschaft angekommen und sollte vor dem Hintergrund des Klimawandels und einem nach wie vor zu hohen Ressourcenverbrauch noch weiter an Bedeutung gewinnen.

Aber auch wirtschaftlich sollten wir uns nicht einer natürlichen Verantwortung entziehen. Als Bevölkerung in einer der weltweit fortschrittlichsten Industrienationen haben wir ein Wohlstandsniveau erreicht, von dem viele Menschen nur träumen. Und nicht selten sind aber genau diese Menschen Teil einer Wertschöpfungskette, von der wir als Endkunde profitieren. Dass dieses System einen Konstruktionsfehler hat, dem wir uns vielfach nicht bewusst sind – auch das hat etwas mit Verantwortung zu tun.

Und schließlich gibt es auch noch eine politische Komponente, insbesondere im europäischen Kontext. Man kann es nicht oft genug sagen: die Entwicklung Deutschlands hängt auch ganz wesentlich von der Europäischen Union ab. Es wird eine ganz wesentliche Herausforderung im 21. Jahrhundert sein, diesen Kontinent als Hort des Friedens, der Freiheit und der wirtschaftlichen Stärke zwischen den Supermächten im Osten und Westen zu positionieren. Als größte Volkswirtschaft in Europa hat Deutschland dafür einen unbestreitbaren Gestaltungsauftrag.

Die vorangegangenen Ausführungen beanspruchen natürlich keinerlei Vollständigkeit oder gar objektivere Korrektheit. Vielmehr soll damit ein Anstoß gegeben werden, für eine meiner Meinung nach längst überfälligen Debatte.