Zugegeben: ich habe nicht damit gerechnet, dass die Sondierungsgespräche zur einer möglichen Jamaika-Koalition scheitern. Gerade deshalb habe ich mir sämtliche Presseberichte durchgelesen — und dennoch hat mir ein tiefgreifender Blick in das Wesen unserer politischen Gesellschaft gefehlt, der das Zustandekommen dieses Ereignisses gut erklärt und analysiert. Deshalb habe ich es selbst versucht. Fünf Aspekte sind dabei meiner Meinung nach zu nennen.
1) Das politische Lagerdenken hat ausgedient.
Links oder rechts? Kaum eine Debatte kommt mehr damit aus, politische Parteien oder Strömungen einem dieser beiden Pole in der politischen Landschaft zuzuordnen. Für die Einordnung extremer Parteien mag das womöglich noch eine adäquate Herangehensweise sein — für alle anderen aber nicht. Die Grenzen verschwimmen zunehmend. Und der Grund dafür ist nicht besonders schwer ausfindig zu machen, denn die Ausprägungen vieler Herausforderungen in einer globalisierten Welt sind nur noch selten mit „entweder…oder“, sondern vielmehr mit „sowohl…als auch“ zu beantworten. Beispiele dafür gibt es genug — Flüchtlingsfrage, Energiewende, Bildungspolitik, Digitalisierung oder auch in der Außenpolitik. Die meisten Bürger haben das bereits begriffen, insofern wäre die Jamaika-Koalition nur eine konsequente Fortführung dieser Entwicklung gewesen.
Der Wähler neigt nicht nur persönlich, sondern inzwischen auch politisch zu einer Individualisierung, die dem Verhalten im Restaurant ähnelt. Das Hauptgericht wird der Speisekarte entnommen, die Beilagen dazu aber werden nach persönlichem Gusto gewählt.
Ein bisschen mehr Ordnung in der Flüchtlingsfrage, mehr Ambition bei Themen der Nachhaltigkeit, eine progressive Digitalisierungsstrategie und Kontinuität in der Außenpolitik — die Ausgangslage nach den Wahlen war nicht völlig unklar. Wenn der politische Apparat in Berlin mit diesen veränderten Rahmenbedingungen nicht umzugehen lernt, wird es nicht die erste Regierungskrise bleiben.
Insbesondere die FDP muss sich diesen Vorwurf gefallen lassen, wenn man bedenkt, dass sich Cem Özdemir bei Horst Seehofer nach den Verhandlungen bedankt hat und ebenjener Horst Seehofer bemängelt, dass die FDP seine Partei (CSU!) bei Fragen der Flüchtlingspolitik „rechts“ überholt hat.
2) Faktenfreie Kommunikation kann man sich auch sparen.
Wer die Sondierungsgespräche in den letzten Wochen samt Statements und Berichterstattung mitverfolgt hatte konnte sich — so jedenfalls mein Empfinden — nur schwer ein Bild von dem tatsächlichen Ausmaß der Differenzen machen. Vielfach war es mir nicht möglich einen konstruktiven Standpunkt zu entwickeln, weil mir die notwendigen Informationen fehlten. Hochkomplexe Fragestellungen wurden in der Öffentlichkeit oft nur mit „für“ oder „gegen“ beantwortet — und nicht mit einer verantwortungsvollen Umsicht, wie man sie von den politischen Eliten in diesem Land eigentlich erwarten könnte.
Beispiel Familiennachzug: um wie viel mehr Flüchtlinge geht es in diesem Zusammenhang überhaupt? Beispiel Kohleausstieg: welche Maßnahmen wären unmittelbare umsetzbar, ohne dass die Netzstabilität gefährdet wäre? Oder Beispiel „Schwarze Null“: welche Investitionen werden aufgeschoben und an welchen Stellen wird gespart?
Es scheint als würde nicht der politische Ordnungsrahmen zur Problemlösung im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die Deutungshoheit über die Probleminterpretation.
Zu jeder Meinung gibt es eine Gegenmeinung, zu jeder These gibt es eine Gegenthese. Das ist absolut destruktiv. Und nicht nur sorglos gegenüber allen, die sich ernsthaft mit den Herausforderungen in diesem Land auseinandersetzen, sondern vor allem auch ein unverfrorenes Vorenthalten von wesentliche Informationen zur politischen Meinungsbildung. Wer ein ernsthaftes Interesse an einem aufgeklärten Bürgertum hat, sollte an derartigen Stellen für mehr Transparenz sorgen.
Überaus wünschenswert wäre deshalb — jedenfalls aus meiner Sicht — eine vollumfängliche Einsicht in die Verhandlungsunterlagen der Sondierungsgespräche. Nur damit könnte gewährleistet werden, vernünftige Schlüsse aus den vergangen Wochen zu ziehen.
3) Deutschland steht sich selbst im Weg.
Manch einer möchte meinen diese Regierungskrise sei an sich nicht dramatisch — auf den ersten Blick mag das vielleicht sogar sein, vielleicht war es nur eine Frage der Zeit bis dieser Zustand in der Bundesrepublik das erste Mal eintritt. Auf den zweiten Blick aber zeichnet sich dennoch ein deutlich ungemütlicheres Bild der Situation ab. Deutschland fällt als stärkste Volkswirtschaft Europas unweigerlich eine Führungsrolle innerhalb der Europäischen Union zu, ob man will oder nicht. Vielmehr als je zuvor gilt es aber, diese Rolle anzunehmen und damit vernünftig umzugehen.
Kommt Deutschland nicht vom Fleck, kommt Europa nicht vom Fleck — das gilt umso mehr, seitdem der französische Präsiden Emmanuel Macron im September weitreichende und ambitionierte Vorschläge zum Umbau der Europäischen Union vorgelegt hat (mit vielen überfälligen und guten Ansätzen wie ich finde).
Die Gelegenheit war selten günstiger, eine derartige Chance zu nutzen — allerdings braucht es dafür ein stabiles pro-europäisches Regierungsbündnis in Berlin. Mit der jetzigen Situation verstreicht aber wertvolle Zeit für dieses Vorhaben.
4) Die politischen Inszenierungsmechanismen nerven.
„Inhalte überwinden“ — mit diesem Werbeslogan ist die Satire-Partei „Die Partei“ von Martin Sonneborn vor wenigen Jahre durch Land gezogen. Inzwischen fragt man sich sehr wohl, gerade nach den gescheiterten Sondierungsgesprächen, was daran eigentlich noch lustig ist. Angefangen von der schäbigen Aussage des CSU-Krawallmachers Andreas Scheuer, der den Wahlausgang wie folgt kommentiert hat: „Jetzt ist uns Tofu in die Fleischsuppe gefallen — bis hin zur schäbigen Begründung der FDP zum Verhandlungsabbruch mit den Worten: „Lieber nicht regieren als falsch.“ Was ist eigentlich falsch regieren? Und warum schwirrt ein Bild mit ebendiesem Satz schon kurze Zeit nach dem angeblich spontanen Abbruch der Verhandlungen auf sämtlichen Social-Media-Kanälen dieser Partei herum?
Man fragt sich unweigerlich, weshalb sich Menschen bei diesem Theater überhaupt noch für Politik interessieren sollten. Mir persönlich gehen langsam die Antworten auf diese Frage aus. Ja, Politik ist nicht immer schnell und ja, Politik braucht immer Kompromisse. Ebenso steht zweifelsfrei fest, dass Politik auch nie eindeutige Lösung hat — ansonsten könnten wir uns das wählen ja auch sparen.
Was aber momentan passiert ist überaus besorgniserregend: Politik wird nur noch in Schlagzeilen gedacht.
Die Folgen davon sind schon jetzt teilweise absehbar, in zweierlei Auswirkungen: Zum einen steigt die Erwartungshaltung vieler Menschen und der Wunsch nach einfache Lösungen auf komplexe Probleme — zum anderen sehen sich dadurch aber auch viele nicht mehr der Notwendigkeit ausgesetzt sich selbst eine fundierte Meinung zu bilden. Wenn dann populistische Parteien um die Ecke kommen, die Spirale der Zuspitzung in unbekannte Höhe treiben und damit auch noch Erfolg haben — dann ist diese Entwicklung hausgemacht. Wer in diesen Wettbewerb mit einsteigt, wird sicher nicht wieder als Gewinner aussteigen.
5) Politik braucht wieder mehr Profil.
Mich persönlich beschleicht hin und wieder das Gefühl, dass Parteien immer häufiger nach dem Ausschlusskriterium gewählt werden. Man stimmt nicht für eine Partei, sondern gegen die anderen. Man wählt X, damit man die Koalition aus Y und Z verhindert. Wirklich zufriedenstellend ist das nicht, wenn man als Bürger an der Wahlurne steht. Und selbst wenn, wie jetzt der Fall war, die einzig logische Machtperspektive schon vor der Wahl abzusehen war, so wird auch daraus keine vernünftige Regierung. Das wohl bald wieder anfangende Wahlkampfgetöse mit unaufhörlichen Schuldzuweisungen und persönlichen Anfeindungen macht die Sache nicht viel besser, weil auch damit keinem Menschen geholfen ist.
Es wird deshalb Zeit, dass politische Parteien sich wieder stärker an den wirklichen Problemen der Menschen orientieren. Was hilft mehr Geld in der Haushaltskasse, wenn das WLAN trotzdem dauerhaft schlecht ist? Was helfen Tablets in der Schule, wenn die Sachen die wir lernen nicht mehr zeitgemäß sind? Und was hilft ein Verbot des Verbrennungsmotors, wenn die teilweise chaotischen Verkehrssituationen um und in vielen Großstädten nicht endlich besser werden? Vermutlich sind das jene Momente, in denen man davon spricht, dass die Politik sich vom Bürger entfernt hat.
Politik muss Ursachenbekämpfung sein, nicht Symptombekämpfung.
Und es wird Zeit, dass politische Parteien ihre Kernbotschaften konkreter ausarbeiten, aber auch konsequenter einfordern. Gerade vor dem Hintergrund des Zerfalls der politischen Lagerblöcke (Punkt 1) könnte das vor allem in Zukunft eine Voraussetzung für tragbare Koalitionsbildungen sein. Denn wohl oder übel wird man sich damit abfinden müssen, dass die Forderungen vieler Menschen an Parteigrenzen keinen Halt machen und dabei bunt kombiniert werden. Und wenn es dann zu einer Regierungsbildung kommen sollte muss klar sein, für welche 3–4 Kernbotschaften eine jede Partei steht — die dann geradlinig umgesetzt werden und bei Überschneidungen in einem Kompromiss enden.
Politik muss nicht perfekt sein, aber nachvollziehbar und auf Ausgleich bedacht.
Bei den Sondierungsgesprächen in den vergangenen Wochen waren bereits entsprechende Tendenzen erkennbar — eine schwarze Null für die CDU, eine atmende Obergrenze für die CSU, ein Abbau des Solidaritätszuschlags für die FDP und ein zügiges Ende der Kohlekraftwerke für die Grünen. Ganz nach dem Motto, das Ganze ist mehr wert als die Summe seine Teile. Auch deshalb greift das vielfach angebrachte Argument — „Es kann nicht funktionieren, weil die Parteien viel zu unterschiedlich sind.“ — meiner Meinung nach viel zu kurz.
Es wäre übertrieben nun von einer Katastrophe sprechen, dafür geht es Deutschland eigentlich zu gut. Wir sollten diesen Moment aber auch nicht auf die leichte Schulter nehmen, sondern vielmehr als Anlass nehmen um zu diskutieren, wie Politik abseits einer Großen Koalition eigentlich funktionieren sollte. Und vor allem sollten wir uns bei möglichen Neuwahlen um den Entzug des Aufmerksamkeitsmonopols der AfD kümmern — denn wenn eines die letzten Wochen gezeigt haben, als es etwas ruhiger wurde, dann das: es geht auch ganz gut ohne diesen Populistenverein.
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